Gerd
Hoch über den Dächern der Stadt gibt es einen Raum, der so verwunschen, merkwürdig und zugleich wunderschön urig ist, dass man ihn sich kaum vorstellen kann.
Als ich das erste Mal mitten im geschäftigen Trubel der Stadt die steilen Stufen zu dem holzgetäfelten Raum emporstiefelte, den besonderen Geruch wahrnahm, die Atmosphäre in mich aufsog, war mir, als beträte ich eine andere Welt. Hier hat sich Gerd sein Reich geschaffen. Es ist das Reich eines außergewöhnlichen Mannes.
Gerd ist eher klein und unscheinbar. Doch das täuscht. Er hat eine ganz besondere Macht, die sonst kaum ein Meller hat. Wenn er möchte, kann er sich binnen weniger Sekunden in der ganzen Stadt Gehör verschaffen. Denn Gerd ist der Carillonist der Stadt.
Seit über fünfzig Jahren schenkt er den Meller Bürgern mit seiner Musik kleine Auszeiten, unerwartete Momente der Freude, Fluchtpunkte aus dem Alltag. Und dieser Raum oben im Rathaus, nur wenige Höhenmeter entfernt vom Trubel des Wochenmarktes, von den gehetzten Bürgern, die ihre Einkäufe erledigen, von den plaudernden Menschen, die auf der Straße ein Schwätzchen halten,ist Gerds zweites Zuhause.
Überall in diesem Raum, der Schaltzentrale der Musik, sind, sorgfältig drapiert, wunderschöne, kleine und große, moderne oder klassische Glocken zu finden. Die Glocken sind aus Blech, Kupfer und Ton.Es gibt Glocken, die wunderschön klingen und Glocken, denen man keinen Ton entlocken kann. Und ganz in der Mitte befindet sich das eigentliche, nur wenigen Mellern bekannte, Herzstück der Stadt: das Carillon.
Das Carillon und Gerd gehören für mich zu Melle wie der Fisch zu Schleswig-Holstein, das Brandenburger Tor zu Berlin oder das Hofbräuhaus zu München. Weder München noch Berlin noch eine andere der bekannten und unter Studenten wie mir so beliebten Großstädte können sich mit etwas dermaßen Schönem schmücken. Nein, ein Carillon, das haben nur Melle und einige, wenige andere Städtchen in Deutschland.
Es ist ein Erlebnis, dieses Instrument anzuschauen, es in der besonderen Atmosphäre dieses Raums erleben zu können. Überall Stille. Alle Laute von außen werden von dem alten, schweren Holz geschluckt. Dann schaltet sich das Carillon automatisch ein und auf einmal ist der ganze Raum von Musik erfüllt. Von wunderschönen Tönen, die aufeinander folgen, gleichzeitig erklingen oder sanft ineinander übergehen. Man kann gar nicht anders, als dieser Musik hingerissen zu lauschen und das sich scheinbar selbstständig bewegende, mithilfe komplizierter Technik in Gang gesetzte Carillon wie hypnotisiert anzuschauen, in dem Klang der Musik aufzugehen, in die Musik einzutauchen.
Plötzlich verstummt die Musik, das Carillon hat sich wieder abgeschaltet. Stumm stehe ich noch eine Zeitlang da. Sekunden? Minuten? Ich kann es nicht sagen und lasse die Musik in mir nachklingen.
Langsam kehre ich in die Realität zurück und sehe Gerd mit einem gutmütigen, friedvollen, weisen Lächeln auf den Lippen neben mir stehen. Er wird an diesem Tag noch selbst spielen. Vielleicht im Raum nebenan auf dem Übungscarillon,einem zweiten, fast so schönem Carillon, das aber niemand außerhalb des Raumes hören kann. Vielleicht wird er sich aber auch an das "richtige"Carillon setzen und ein kleines, kostenloses Konzert für alle Bürger der Stadt Melle geben.
Langsam steige ich die Holzstufen wieder herunter. Eine Etage unter dem Raum ist der Hochzeitssaal, in dem so oft Verliebte den Bund fürs Leben schließen. Wenn die wüssten, was ihnen für ein Schatz direkt über ihren Köpfen entgeht! Die Treppe wird breiter, ausgebauter, weniger steil. Ich öffne die schwere Rathaustür und stehe unten auf dem Marktplatz. Die Menschen hasten an mir vorbei. Der Trubel der Stadt hat mich wieder eingefangen.
Da, ein Ton. Nein, mehrere! Die Musik kommt von oben. Es ist eine seltsam vertraute Musik, doch die Melodie ist mir fremd. Spielt Gerd dieses Mal etwa selber? Ich schaue nach oben, hinauf zum Glockenspiel und spüre: Gerd verabschiedet sich nochmals auf seine ganz eigene Art von mir. Mach's gut, Annemarie, bis zum nächsten Mal! Und ich möchte antworten. Er hört mich nicht. Doch ich spüre, er fühlt, was ich antworten möchte: Danke! Danke für dieses Stück Heimat. Egal, wohin das Leben mich treibt, ich weiß, ich komme wieder. Und wenn ich einst wieder die Töne des Glockenspiels höre, vielleicht erst fern, dann immer näher und lauter, werde ich aus tiefster Seele spüren: Melle, du mein wunderbares Melle, wir haben uns wieder. Und darauf freue ich mich schon.